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Karl Hartmann saß am seinem Schreibtisch vor dem großen Dachfenster. Er konnte den alten Fünffingerturm sehen, das Wahrzeichen der Stadt. Trotz der Dunkelheit hob er sich als Schattenriss vom Nachthimmel ab und offenbarte, dass er nunmehr nur noch ein Vierfingerturm war. Der Zeigefinger fehlte zur Hälfte, seit irgendein Wahnsinniger Zielübungen mit der Panzerfaust an ihm absolviert hatte.
Hartmann nahm ein antikes Satellitentelefon aus der Schreibtischschublade und verband es, ohne hinzusehen, mit dem großen Monitor, der vor ihm stand. Sein Blick schwenkte vom Turm hinauf in den Himmel. Man konnte trotz des Smogs der Feuer und Holzöfen vereinzelte Sterne ausmachen. Hartmann wusste, dass dort oben auch andere Dinge kreisten.
Zum Beispiel hunderte von fußballgroßen Kugeln mit bizarren Auswüchsen, die Sets Raumschiff hinterlassen hatte. Eine außerirdische Technologie, die es Hartmann erlaubte, gefahrlos und abhörsicher das Telefon zu benutzen. Ironischerweise sahen diese fortschrittlichen Satelliten fast genauso aus wie Sputnik, das erste Objekt, das die Menschheit ins All geschossen hatte.
Der Ex-Vorsitzende schaltete das Telefon ein. In einer geöffneten, rotgrün gemusterten Blechkiste neben dem Monitor fing ein pyramidenförmiges Objekt langsam an zu blinken. Auch dies war eine Hinterlassenschaft von Set, dem nervtötenden aber hilfreichen Außerirdischen. Codes wurden übermittelt, abgeglichen und bestätigt. Auf dem Monitor poppte ein Fenster nach dem anderen auf. Echtzeitaufnahmen der Erde, Detailstudien verschiedener Städte und endlich auch Außenaufnahmen des Objektes von Hartmanns Begierde, Sets eigentliches Geschenk, das Schiff. Das weißlich-perlmuttglänzende fischförmige Raumschiff der Pteree kreiste stoisch und herausfordernd auf seiner Umlaufbahn und schien nach Hartmann zu rufen »Komm und hol mich«. Natürlich hatte er keinerlei Zugriff auf die Schiffssysteme. Das gehörte zum Spiel. Hartmann rief das Menü mit seinen Kontakten auf und wählte eine Nummer.
Sekunden später stand die Verbindung und Hartmann blickte in ein fröhliches, kantiges Gesicht, das von einem riesigen, sorgfältig gepflegten Schnurrbart dominiert wurde. Eine große Narbe, die von der rechten Wange bis zur Stirn verlief, zerstörte nicht nur die Symmetrie des Gesichts, sondern auch den Eindruck eines gutmütigen Walrosses. »Sergej« sagte Hartmann.
»здра́вствуйте!, König von Europa«, antwortete Sergej in nahezu akzentfreiem Neo-Deutsch.
»Na was, König. Du weißt, dass ich in diesem Kaff über keinerlei Macht verfüge, dafür sind die Spinner im Schloss zuständig«.
»Immer bescheiden mein Freund. Aber wir beide sind uns doch im Klaren darüber, dass deine Macht über ein paar Kalaschnikows in den Händen von zugekifften Teenagern hinaus geht«.
»Lassen wir das. Wie geht es dir?«
Sergej veränderte den Kamerawinkel. Jetzt sah man ihn hinter einem beeindruckend großen Mahagonischreibtisch sitzen, der bis auf den Monitor leer war. Die Wand hinter dem Russen wurde komplett durch einen roten Vorhang verdeckt. Neben Sergej stand eine sehr junge, blonde Frau, fast ein Mädchen noch, in einem so engen goldenen Kleid, dass sie mit dem Kleidungsstück fast nackter aussah, als wenn sie gar nichts getragen hätte. Sie blickte gleichgültig in die Kamera. Sergej fasste ihr um die Hüfte und zog sie ruppig an sich. »Mir geht es so gut, wie dem Mistkäfer im Dung. Schau her Hartmann. Das ist Nadeshda oder so, meine neueste Errungenschaft«. Über das Gesicht der jungen Frau huschte ein Ausdruck, den man als Ekel interpretieren konnte. Er wurde augenblicklich durch die gleichgültige Maske ersetzt.
»Sei mir nicht böse Sergej, du weißt, dass mich so etwas nicht besonders interessiert.
Ulianov hat uns die Überflugrechte bis zum Raumhafen gesichert. Du kannst dir vorstellen, wie viele Lokalpotentaten dafür bezahlt, gegeneinander ausgespielt und bedroht werden mussten. Eine Garantie gibt es natürlich nie, aber der Weg ist frei. Wie lange er frei ist steht auf einem anderen Blatt.
Also Sergej, was macht die Sojus? Wann bekommen wir ein Go? Ich sehe, dass sie auf der Rampe steht, aber das ist auch alles.
Habt ihr die Extras einbauen können? Und verdammt nochmal wird sie fliegen?«
»Natürlich wird sie fliegen«. Sergej lächelte und tätschelte Nadeshda oder so`s Hintern. »Wir reden hier nicht von einem Amerikanospielzeug oder einer ESA-Diva. Das ist gute russische Technologie. Generationen von Technikern haben in Baikonur ausgeharrt und die Raketen gepflegt. Sie haben ihr Wissen an ihre Kinder weitergegeben und sie in dem Glauben erzogen, dass Russland eines Tages ins All zurückkehren wird. Jetzt sind die Enkel am Ruder und ihr Stolz wird es nicht zulassen, dass die Sojus nicht fliegt«.
»Übrigens«, fuhr Sergej fort, »Ich habe noch ein Geschenk für dich. Schätzchen, präsentiere unserem Freund das Geschenk«.
Es kam leben in das Mädchen. Sie glühte förmlich und Hartmann entdeckte etwas in ihrem vorher so teilnahmslosen Blick, das ihm absolut nicht gefiel. Hatte er vorher Mitleid mit einer vermeintlich geschundenen Kreatur empfunden, so sah er nun echte Freude gepaart mit blankem Sadismus.
Die sogenannte Nadeshda öffnete theatralisch den roten Vorhang. Dahinter lag einer kleiner, schwarz gestrichener Raum. Mit betont wiegenden Hüften stelzte die Frau hinein, auf das dominierende Einrichtungsstück zu. Es war ein Kreuz. An dem Kreuz hing ein untersetzter, nackter Mann, der offensichtlich Ohnmächtig war.
Der Mann trug einen langen, verfilzten Bart. Seine Brust und seinen hängenden Bauch bedeckte getrocknetes Blut. Unter der rostbraunen Schicht erkannte Hartmann, dass der Fremde über und über mit Ikonen tätowiert war. Die starren Augen der Heiligen blickten entrückt durch einen Blutvorhang aus der Folterkammer.
Nadeshda ohrfeigte den Mann, so dass sein Kopf gegen das Holz des Kreuzes krachte. Er fing an, unverständlich zu brabbeln. Die Frau in Gold lächelte. »Was soll das, Mann«, entfuhr es Hartmann. Sergej nahm eine dünne Zigarre aus dem Tisch und paffte drei Züge, bevor er im ruhigen Ton eines Geschichtsdozenten antwortete.
»Er besaß einer Bombe. Eine selbstgebastelte, primitive aber effektive Bombe. Die Bauanleitung haben wir auch gefunden "Baue eine Bombe Schritt für Schritt zur Ehre Gottes".
Er wurde von einer fanatischen Sekte zu uns geschickt, die sich "Prawda" also Wahrheit nennt. Überall verüben sie Anschläge auf Kraftwerke, Pipelines oder die neu in Betrieb genommenen Eisenbahnstrecken.
Ihrer Meinung nach hat uns die Strafe Gottes getroffen, um uns für unsere Sünden büßen zu lassen. Jede Erleichterung dieser Strafe ist des Teufels und muss ausgemerzt werden.
Sie strafen sich sogar fortwährend selber und gehen dafür sehr weit. Zeigs ihm Schatz«.
Das Mädchen drückte den Bauch des stöhnenden Mannes hoch, so dass man einen guten Blick auf seinen Schritt hatte. Doch da war nichts. Statt des Penises gab es nur einen entzündeten Stumpf aus dem ein Röhrchen ragte.
Hartmann kam sein Abendessen hoch.
»Sie büßen und büßen...« Sergej lachte trocken.
»Er schlich sich als Wanderpope ein. Die Techniker sind ja so religiös. Wir leben in verrückten Zeiten, nicht wahr?
"Prawda" weiß von dem Schiff und sie fürchten es.
Die Sojus ist das Werk des Teufels und somit ein Ziel. Für die Techniker in Baikonur ist die Sojus ein verehrungswürdiges Relikt aus einer großen Zeit. Gott gibt ihnen nunmehr die Chance, diese goldene Ära wieder zurückzubringen. Das ist unsere Welt. Nadja, spiel noch etwas mit dem Schwein aber mach den Vorhang zu und sei leise dabei, danke. So, jetzt muss ich einen trinken. Auf das Leben mein Freund, auf das beschissene, verrückte Leben«.
Sergej hielt plötzlich ein gut gefülltes Glas in der Hand und stürzte es hinunter.
»Wir kommen gut voran, Hartmann. Wir schaffen das, sei unbesorgt. Bald kommst du zu uns und wir trinken zusammen. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis wir die grünen Männchen sehen. Ich melde mich«.
Die Verbindung brach ab.
Der Ex-Vorsitzende Karl Hartmann starrte auf den Vierfingerturm, ohne ihn wahrzunehmen.
Er sah Bilder vor seinem geistigen Auge. Aufnahmen zweier weiterer Raketen, aus dem Orbit übertragen. Eine stand in einem dampfenden Dschungel und die andere in einer weiten Wüste. Um beide wimmelten Arbeiter wie die Ameisen.